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„Die Anderen“ – Gefahr & Macht der Worte

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Wie nimmst du die Welt und “Die Anderen” wahr? Was ist Wirklichkeit – und was ist nur deine Wirklichkeit? Ein Post über Wahrnehmung, Wirklichkeit & Kommunikation.

Wie gerne lesen wir Berichte von Reisenden, die uns mitnehmen in eine uns unbekannte Welt. Ohne unseren Alltag verlassen zu müssen, können wir in einen anderen Kosmos eintauchen. Wir sehen diese andere Welt durch ihre Augen. Und das Internet ist voll davon!

Warum darüber schreiben? Grade bin ich über einen journalistischen Text aus dem Jahr 2016 gestoßen – selten habe ich mich so fremd geschämt.

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Reise ins Inselparadies

Eine Journalistin, die im Auftrag des Goethe Instituts nach Trobriand gereist ist um zu ergründen ob die Gabentausch-Ökonomie insbesondere der Kula-Tausch aktuell noch gelebt wird.

Wir erfahren weder den Hintergrund der Schreibenden noch die Rahmenbedingungen der Reise. Und schon gar nichts erfahren wir über die Vorbereitung wie zB Recherche bisheriger Forschung, Auswahl der Interviewpartner oder die angewandten Methoden oder Analysentechniken. 

Stattdessen erfahren wir viel über das ästhetische Empfinden der Schreibenden – der Text wimmelt von Beschreibungen von körperlichen Merkmalen der Menschen, denen sie begegnet: Da ist die Rede von „dreilagigen Speckwülsten“, von „braunen Kolossen“, von Betelnüssen rot gefärbten Zähnen, „roten Zinken“, „Hutzelweibchen“ und immer wieder: „fetten“ Personen.

Insgesamt ist der Bericht gespickt mit negativ besetzten Worten: „lumpige“ Kleidungsstücke, „schäbige Hütte“, „zerfledderte Bibel“, „Kirchenbrimborium“. 

Und obwohl der Titel des Artikels suggeriert es gehe um die Tauschökonomie auf Trobriand zeigen die einleitenden Worte was Programm ist: „Sind wir hier in Fettland? Die Männer haben dreilagige Speckwülste im Nacken und Füße wie Flossen, ihre Frauen hauen sich schon in aller Frühe mit Mayonnaisetoasts voll, die übergewichtigen Kinder futtern tütenweise Junkfood.“

Viel über die Tauschzeremonien erfahren wir nicht. Nur, dass es den Kula-Tausch noch gebe, und Muscheln an der Wand hingen, die „keinen Wert“ hätten. 

Mehrwert dieses Artikels? Fragwürdig.

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Wie ist deine Wahrnehmungsbrille gefärbt?

Was „westliche“ Philosophen schon vor vielen Jahrzehnten propagiert haben (und die „östliche“ Wissenschaft schon seit vielen Jahrtausenden weiß), wurde mittlerweile durch moderne Neurowissenschaft bestätigt: Unsere bisher gemachten Erfahrungen – unsere gewohnten Denkmuster – sowie unsere gegenwärtige Gefühlslage färben unsere Wahrnehmung.

Wie wir also die Welt, die so genannte „Realität“, sehen und welche Aspekte wir herauspicken um sie zu einem Ganzen zusammenzusetzen, ist daher eher ein Spiegel unserer Vergangenheit und unserer Emotionen. Mit der “wahren Welt”, die ich meine zu beobachten, kann dies relativ wenig zu tun haben.

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Glasgow – Wahrnehmung & Wirklichkeit?

Bestimmt hast du eine ähnliche Situation auch schon erlebt: Auf einer meiner Reisen durch Andalusien lernte ich Marzanna und Miro kennen. Die beiden waren vor einigen Jahren nach ihrem Studium nach Schottland ausgewandert. Neugierig fragte ich sie nach ihrem Leben in Glasgow. Vor ein paar Jahren war ich selbst für einen Tag dort gewesen, als Ausgangspunkt für die Wanderung auf dem West-Highlandway. Duster kann ich mich an von Kohle schwarz gefärbte Häuser erinnern, alles sah heruntergekommen und wenig einladend aus. Von daher bestätigte Miros Erzählung meine – zugegeben sehr einseitige – Erinnerung. Er zeichnete ein trauriges Bild: es ist kalt, es regnet immer, es ist düster, schmutzig, die Menschen verschlossen, die Stadt überhaupt nicht einladend. Puh, dachte ich mir während seiner weiteren Ausführungen, das Angebot von den beiden sie mal besuchen zu kommen, schlage ich doch mal ganz diplomatisch aus.

Marzanna – eine lebensfrohe Künstlernatur – starrte ihn entgeistert an, die Kinnlade vor Erstaunen heruntergeklappt. In ihr schien es zu brodeln je länger sie zuhörte. Schließlich brach es förmlich aus ihr heraus: Glasgow liege günstig zu allen sehenswerten Ausflugszielen in Schottland, zeichne sich durch imposante historische Gebäude und moderne Baukunst aus, es scheine viel die Sonne, milde Winter, es gebe weitläufige Parkanlagen sodass man sich Stundenlang in der Natur aufhalten kann obwohl man noch im Stadtgebiet ist. Glasgow habe eine pulsierende Kulturszene, eine weltoffene internationale Community, herzliche Menschen – kurzum: die beste Stadt in der man überhaupt leben könne!

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Die Macht der Worte

Wie nehme ich meine Umwelt und „die Anderen“ wahr? Und wie kommuniziere ich darüber?

In der Ethnologie wurde eine große Debatte ausgelöst, als man sich mit der Rolle von Ethnologen während der Kolonialisierung und darüberhinaus beschäftigte. Mit Entsetzen erkannte man wie Ethnologen durch ihre Schemata und Kategorisierungen zur Bildung von Stereotypen beigetragen hatten. Durch die analytischen Hilfskonstrukte wurden Bilder von “ethnischen” Grenzen erschaffen wo es zuvor keine gegeben hatte. „Ethnische“ Zugehörigkeiten, die genutzt wurden um Zugang zu Ressourcen zu regeln und neue Machtverhältnisse zu schaffen…

Die Writing Culture Debatte beschäftigte sich intensiv mit den Fragen: Wie kann man die Gesellschaft der ‘Anderen’ angemessen beschreiben, ohne künstlich Differenz und Grenzen zu konstruieren? Wie schafft man es ein reales Bild der untersuchten Gesellschaft zu zeichnen ohne Stereotypen und Machtgefälle zu verfestigen? Wie gelingt dies ohne durch die eigene kulturell gefärbte Brille zu verfälschen?

*W

Welches Bild von der Welt erschaffe ich in den Köpfen meiner Leser? Und wie unhinterfragt wird diese übernommen?
Darin liegt eine große Verantwortung.
Für den Schreibenden wie für den Lesenden.

….

Der Einladung Marzannas sie in Schottland zu besuchen habe ich schließlich doch angenommen.

Coming soon: Wer von den beiden hatte nun recht? Mehr zu meiner Schottland-Glasgow-Entdeckungstour findest du bald <hier>.

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