Was hat “Ochse – Haus – Kamel” mit unserem Alphabet zu tun? Wie hängt antike „griechische“ Philosophie mit buddhistischer Ethik und den indischen Upanishaden zusammen? Wie ist Europa zu dem geworden was es heute ist?
Diesen und anderen Fragen gehen die Autoren Ilja Trojanow & Ranjit Hoskote in ihrem Buch Kampfabsage – Kulturen bekämpfen sich nicht, sie fließen zusammen auf den Grund. Vielmehr bedeutet ihnen jedoch die klare Absage gegen eine eurozentrische Leitkulturdebatte. Eine Debatte, die aus politischen Gründen kulturelle Trennlinien schafft wo in Wirklichkeit keine sind.
Ilja Trojanow, Ranjit Hoskote 2017 Kampfabsage – Kulturen bekämpfen sich nicht, sie fließen zusammen. Frankfurt: Fischer Taschenbuch.
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Table of Contents
Streitschrift gegen kulturelle Engstirnigkeit
Kategorien & Strukturen – wie wir sie doch lieben! Alles versehen wir fein säuberlich – sehr gerne auch mit wissenschaftlichem Anspruch – mit einem Etikett. Mit ihnen schaffen wir Ordnung in dieser verwirrenden Welt, mit ihnen wissen wir wer Freund und wer Feind.
Tatsächlich?
Vermeintlich.
Denn diese Kategorien – DU bist SO und ich bin anders; deine „Kultur“ ist exakt so / meine anders – sind nur eine Illusion. Mit der tatsächlichen Wirklichkeit haben sie wenig zu tun. Das absurde daran ist, dass wir diesen Widerspruch aktiv leben – und dennoch an die Trennung der Welt in Form von starren Identitäten glauben.
Pankaj Mishra beschreibt diese gelebte Diskrepanz sehr schön in ihrem Nachwort anhand einer Situation mit ihrer Tante. Diese, eine ehemalige Lehrerin, lebt in Rishikesh in einem Ashram. Sobald die Sprache auf die politische Situation kommt, kochen bei ihr die Emotionen hoch und antimuslimische Äußerungen brechen sich ihre Bahnen. An der Wand ihrer Ashram-Zelle hängt mit Blumengirlanden bestückt das Porträt eines bekannten, von Millionen Indern verehrten Sufi-Heiligen… „War ihr bewusst, dass sie einen Muslim verehrte?“ (S.237)
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Absage an die kulturelle Zwangsjacke
Trojanow & Hoskote schaffen es diese Trugbilder von „Nationalität“ und „Kultureller Identität“ aufzulösen, indem sie in die geschichtliche Entwicklung einzelner Phänomene eintauchen.
Die Autoren sprechen von einer „konfektionierten Identitätszwangsjacke“ (S.16) der sie eine Absage erteilen, denn die verengte Vorstellung von „Kultur“ als eine Wesenheit, die seit den Anfängen der Welt existiere, und die daraus resultierende Angst vor sozialer Überfremdung, die sich wiederum in Hass wandelt, sei das eigentliche Übel. (Vgl. S. 15 f.)
Dieser starren Kulturidee setzen sie die Idee eines „kulturellen Gemeinschaftsraums“ entgegen:
ein Ort der Versammlung, wo unterschiedliche Ideen, Meinungen und Lebensentwürfe vorgestellt und ausprobiert werden, miteinander konkurrieren, wo Dissens, nicht Konformität den Ausdruck der menschlichen Möglichkeiten ohne Wenn und Aber garantiert, wo eine bereichernde Vielfalt gefeiert wird.“
Trojanow & Hoskote, 2017: S.16
Die vielen im Buch angeführten Beispiele zeigen wie lebendig „Kultur“ ist, wie sie wächst und sich verändert, wie sie adaptiert, improvisiert, manchmal etwas verloren geht und neu erfunden wird. Sie zeigen wie Austausch – sei es durch Handelsbeziehungen oder durch tatsächliche Migration, durch Gelehrten- & Künstleraustausch, aber auch Eroberungen unsere Welt gestaltet haben.
Und sie zeigen, dass unsere Etikettierung der kulturellen Phänomene in den meisten Fällen schlichtweg irreführend sind.
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Typisch Griechisch??
Rembetaki gilt als „traditionelle Volksmusik“ Griechenlands; als Inbegriff der „griechischen Kultur“, seit Anbeginn der Zeit?
Fehlanzeige.
…eigentlich das Ergebnis von türkisch-griechisch-arabischen Musikelementen, verschmolzen mit dem Schmerz und Heimatverlust von gewaltvoll Vertriebenen in den 1920ern… (Vgl. 21)
Weiß getünchte Häuser und strahlend weiße Säulen antiker Tempel – typisch griechisch?
…eigentlich ein Ergebnis des Reinheitwahns britischer Museumskuratoren im 19. Jh., denn ursprünglich waren diese üppig bemalt und erinnerten an südindische Hindutempel (Vgl. S.45)
Schulbücher präsentieren uns das antike Griechenland als philosophische und politische – fast scheint es einzige – Wiege unserer europäischen Zivilisation…
… auch dieses Konstrukt reißen die Autoren auf und zeigen die vielfältigen Wissensursprünge und Austauschbeziehungen über Jahrhunderte hinweg mit Persien, Babylon, Indien, Einflüsse des Buddhismus, des Islam, Zoroastrismus und des Mitraskult auf….
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Europa: Ergebnis des Zusammenfließens unzähliger “Kulturen”
Die Autoren nehmen uns Leser mit auf eine Zeitreise, stellen uns bedeutende historische Persönlichkeiten vor: von wem oder welcher philosophischer Strömung waren diese beeinflusst? Wie haben sie ihre zeitgenössische Gesellschaft sowie nachfolgende Generationen geprägt?
Ein besonderes Anliegen ist den Autoren kulturelle Vielfalt innerhalb großer historischer Reiche und die dort gelebte interkulturelle Toleranz hervorzuheben. Leider sind die einzelnen kulturellen Phänomene sowie das Wirken der historischen Persönlichkeiten aus ihrem soziokulturellen und historischen Horizont gerissen. Daher wartet das Werk mit einer ungeheuren Bandbreite auf, jedoch fehlt es ihm an wissenschaftlicher Tiefe.
Den Leser überschwemmt eine Fülle an Anekdoten, historischer Persönlichkeiten, Vergleiche, Etymologien, … Die Autoren galoppieren gerade zu durch Jahrhunderte und Regionen.
Achterbahn der Kulturen…
An manchen Stellen gleicht das Buch weniger einer Zeitreise denn einer Achterbahnfahrt – nicht so eine gemütliche aus den 80er Jahren, die einen bei jeder Kurve freudig aufjauchzen lässt. Nein, eher so einer, die einen das Blut in den Kopf drückt und man sich wünscht man hätte doch nicht noch diesen Veggie-Burger vorher gegessen… Gerne hätte ich an manchen Stellen etwas länger verweilt um ausführlicheres Wissen zu erhalten – oder einfach nur sprachlich gestaltete Zeit um in die jeweilige Epoche eintauchen zu können, um den Tornado an kultureller Vielfalt und den Irrwitz an Beziehungsgeflechten verdauen, „sacken lassen“ zu können.
Andererseits spiegelt dies die wahre Natur von „Kultur“ und Kultureller Entwicklung wieder: denn sie lässt sich nicht in kleine theoretische Päckchen packen, lässt sich nicht einschnüren, oder gar einer geraden Abstammungslinie zuordnen. Dazu ist sie viel zu lebendig, immer in Bewegung, speist sich aus verschiedenen Quellen. Gerade aus dieser Erkenntnis heraus vergleichen die Autoren „Kultur“ mit einem Strom. Einen Fluss benennen wir mit einem einzigen Namen und doch reichert er sich aus so vielen unterschiedlichen Zuflüssen an, dass man seinen Ursprung nicht mehr wirklich zurückverfolgen könne bzw. das wirkliche Wesen des Stroms eigentlich nicht erfassen könne.
Wer das zuläßt, erkennt, daß der andere kein Feind ist, kein Fremder […] manchmal nicht einmal ein anderer, sondern nur ein Spiegel der verschiedenen möglichen Facetten, […] der vielfältigen Definitionen der Zugehörigkeit. Wir müssen in diesen Spiegel schauen, nicht um uns in der Verwirrung zu verlieren, sondern um uns selbst und unsere Möglichkeiten klar zu erkennen.“
Trojanow & Hoskote, 2017: S.34
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Fazit
Ein lesenswertes Buch, das mit seinen zahlreichen Einblicken in kulturelle Austauschbeziehungen und Wechselwirkungen verblüfft.
Wer eine lehrreiche aber gemütliche Abendlektüre sucht, wird hier nicht fündig. Dazu sind die Sätze teilweise zu sperrig und der oben beschriebene Galopp durch Jahrhunderte trägt seines dazu bei.
Gönnst du dir jedoch eine schön dampfende Tasse Tee und etwas Zeit erhältst du Denkanstöße, die deine Sicht auf Europa als auch auf „Kultur“ als solches erweitern – und ja vielleicht sogar umkrempeln werden.