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Sonnenuntergang über Blumenwiese als Symbol für Veränderung, Loslassen und Neubeginn

Veränderung: Warum Loslassen so wichtig ist

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Wie geht echte Veränderung? Gedanken zu Veränderung, Tod und Neubeginn und warum Abschied nehmen und Loslassen so wichtig sind.

Ich steh in meinem Wohnzimmer, voller leergeräumter Regale und halbvollen Kartons während sich auf dem Boden meine Sachen türmen. Als wäre ein Tornado durch meine Wohnung gefegt. In diesem Moment begreife ich es in seinem vollen Umfang.

Wenn wir an Veränderung denken, denken wir meist daran: „sich ein Ziel setzen“, man fertigt ein Visionboard an und dann – huiii – los geht’s!

Doch dann. Der “innere Schweinehund” meldet sich. Wir verschieben auf morgen, dann auf übermorgen. Oder geben “wichtigeren Dingen” den Vorzug.

Wir sabotieren uns selbst.

Denn, was wir oft vernachlässigen – was aber grundlegend ist: Veränderung ist immer auch ein Abschied. Das Loslassen von Altem, von nicht mehr notwendigem, nicht mehr passendem. Loslassen von etwas, das uns im Status Quo hält – oder gar uns nicht mehr gut tut. Und wie schwierig dieses Loslassen manchmal sein kann! Denn es gab irgendwann einen Grund, warum wir dieses „Etwas“ uns zu Eigen gemacht haben.

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Wie innen – so außen. Die Therapeutische Wirkung des Ausmistens

Nun stehe ich da vor einem Berg von Zeug. Kleidung, Bücher, Notizhefte, Technik (sooo viele Kabel! Brauch ich die noch?? Zu welchen Geräten gehören die eigentlich????), Bilder, Fotografien, Briefe, Erinnerungsstücke, Bastelmaterialien, Behördenunterlagen und und und… 

Eigentlich lebe ich schon recht minimalistisch, dennoch habe ich immer noch so viel Zeug.

Brauche ich das noch? Will ich das noch? Was zur Hölle ist das eigentlich??

Aber es ist nicht nur „Zeug“. Vor mir ausgebreitet liegt mein gesamtes Leben. Dinge, die mein inneres Wesen widerspiegeln, meine Interessen, laufende Projekte und Fortbildungen, meine Sehnsüchte und Wünsche, mein ästhetisches Empfinden. Dinge, von denen ich glaube, sie erleichtern meinen Alltag. Bücher und Kleidung, die verschiedene Lebensphasen widerspiegeln. An jedes Ding sind auch Erinnerungen gebunden. Erinnerungen an mein früheres Selbst, an erreichte Ziele, an verfehlte Ziele, an Menschen und Beziehungen. Während ich sie durchsehe denke ich gleichzeitig an die vielfältigen inneren Veränderungsprozesse, die mich persönlich reifen und wachsen ließen. All die Entscheidungen, die ich bereits getroffen habe. All die Personen, die Teil meines Lebens gewesen sind, die mich durch ihr Sein beeinflusst haben, mich etwas gelehrt haben.

Alte Identität, neue Identität – Die Kunst des Loslassens

Wie entscheide ich, was ich loslasse? – und was ich behalte? Was soll mich in mein „neues Leben“ begleiten?

Meine Vorgehensweise ist eine Mischung aus Simplify your Life und Marie Kondo: Drei Kartons in Verbindung mit der Frage “Does it spark joy?”

Ich bin in meinem Leben schon oft umgezogen. Doch dieses Mal entscheide ich mich bewusster auszumisten. Denn meine Entscheidung ist radikaler: ich verabschiede mich von (m)einem Lebenskonzept und begebe mich auf Reise, für die es noch kein Enddatum gibt.

Es ist erstaunlich was passiert, während ich ein “Ding” nach dem anderen durchgehe, und gleichzeitig darauf achte, was sich in meinen Gedanken abspielt. Da tauchen Gedanken der Sicherheit auf (“Was ist wenn ich das noch brauche?!?”) und solche, die darauf hindeuten, dass ich wohl das ein oder andere noch nicht ganz verarbeitet habe. Ich geh gedanklich in die jeweiligen Situationen bis ich ein Gefühl der Akzeptanz und der Dankbarkeit spüre.

Noch interessanter ist: es taucht eine Frage auf, die ich so nicht erwartet hatte: Wer bin ich, wenn ich das alles loslasse?? 

Zunächst – wen mag es verwundern – füllt sich mein “Behalten-Karton” am schnellsten. Der Zweitvollste ist der “Nochmal durchschauen”, während der überschaubarste der “Kommt-weg” ist. Ich nehme einen vierten Karton hinzu: “Verschenken”, dieser füllt sich überraschenderweise schneller mit Kleidung, Schmuck und Bücher. Insgesamt braucht es mehrere Wochen des immer wieder Durchsehens bis ich entspannt loslassen kann.

Am meisten macht es mir Spaß, die Dinge einzupacken, bei deren Anblick ich mich freue sie weiterhin in meinem Leben zu haben. Ich will nur noch von wenigen, dafür aber ästhetisch schönen Dingen umgeben sein. Für die mir wertvollen Erinnerungsstücke und Fotografien bastle ich mir eine “Schatzkiste”.

Das Ausmisten hat noch einen weiteren Effekt: ich fühle mich klarer und innerlich sortierter.

Wie außen – so innen.

Ausmisten – “Does ist spark joy?”

Wer bin ich, wenn ich das loslasse? Loslassen von Gedankenmustern und Gefühlen

Bei materiellen Dingen ist es offensichtlich – wir sammeln Dinge, die ein Stück weit unser Leben, unsere Identität repräsentieren. Wenn wir nicht aufpassen, dann sammelt sich auch jede Menge Kleinkram und Unrat, die uns zumüllen. Dies ist aber auch so mit Gewohnheiten und Denkmuster wie Weltsichten, Glaubenssätzen und inneren Dialogen.

Wer bin ich wenn ich das loslasse?

Wer bin ich, wenn ich diese Weltsicht loslasse? Wer bin ich wenn ich diesen Schmerz loslasse, der mir in der Vergangenheit zugefügt wurde? Wer bin ich wenn ich den Groll gegen diese oder jene Person loslasse? Wer bin ich wenn ich diesen Glaubenssatz über mich selbst loslasse?

Das Erkennen, warum wir uns diese Gewohnheit oder jenes Denkmuster angeeignet haben, ist der erste Schritt. Der nächste und wichtigste ist, diese in Wertschätzung zu verabschieden und loszulassen. Tun wir das nicht, kann es dazu führen, dass wir unser gesetztes Ziel, unsere gewünschte Veränderung, selbst sabotieren. Denn dann folgt unser Gehirn zwei konkurrierenden Gewohnheiten oder ist gezwungen einer neuen Gewohnheit zu folgen, die einem alten (evtl. tief sitzenden) Denkmuster zuwiderläuft.

Und dann ist natürlich auch die Frage wie stark man sich mit einer Gewohnheit (“Ich bin halt ne Couchpotato”) oder einem Glaubenssatz (“Ich bin eben so: …”, “Die Welt ist so: …”) oder einem Job oder mit seiner Berufsbezeichnung identifiziert. Schön in dem Film “Sternwanderer” (eine wunderschöne Geschichte über Veränderung, Loslassen und die Kraft der Träume) dargestellt: “Bin ich ein Ladenmitarbeiter? Oder bin ich nur jemand, der zufällig grade in einem Laden arbeitet?”.

Tja. Und manchmal treten Veränderungen durch äußere Umstände ein, die man sich so gar nicht gewünscht hat…

*Zeitsprung – manchmal tritt Veränderung ganz plötzlich und ungewollt ein

Gerade in diesem Moment sitze ich auf dem Friedhof einer kleinen Stadt, nicht weit von dem Platz wo wir unseren Van-Standplatz haben. Ein bisschen wundere ich mich selbst noch, dass ich den Impuls verspürte auf den Friedhof zu gehen. 

Vielleicht liegt es daran, dass er einem Park ähnelt – die Grabsteine und Kreuze kuscheln sich so in das Meer von Blumen und Bäumen, dass sie fast wie Teil der Natur scheinen. Die Sonne scheint, Vögel zwitschern, es ist friedlich.

Vielleicht liegt es auch daran, dass ich selbst in einer Abschiedsphase bin. Abschied von meinem „alten Leben“, von meinem sozialen Umfeld. Abschied von der Idee wie das Leben – mein Leben – auszusehen habe. Abschied von der Idee wie unsere Reise auszusehen habe, denn nun sind unvorhersehbare Faktoren eingetreten, die uns zwingen neu zu denken, neu in uns hinein zu spüren, um herauszufinden was nun der nächste sinnvolle und zugleich wohltuende Schritt ist. 

Der (scheinbar) endgültigste Abschied von allen

Als Kind fand ich Friedhöfe gruselig. Die Vorstellung von kahlen Knochen in dunkler Erde vergraben, unglückliche Seelen, die nach deiner greifen wollen, paarte sich mit der sichtbaren düsteren Armee von Grabsteinen, die in Reih und Glied an die Endlichkeit mahnen. Als ob ein „wir kommen dich holen“ durch die Reihen spukte.

Als ich 13 Jahre alt war konfrontierte mich das Leben erstmalig mit der bewussten Erfahrung von Tod. Ohne Vorwarnung wurde die Mutter meines damals besten Freundes aus dem Leben gerissen, ein Schock der uns allen tief in die Glieder fuhr. Nur ein paar Tage später verstarb meine Oma, bei der ich die ersten Jahre meines Lebens aufgewachsen war, da meine Mutter noch studierte. Sie hatte mich immer ihr „5. Kind“ genannt, und für mich war sie mehr Mutterfigur als Oma. Ich fühlte einen Schmerz, der mich innerlich fast zerriss. Diese liebevolle Frau, die mich liebevoll an ihren großen Busen gedrückt hatte, wenn ich traurig oder ängstlich war, die mir Geschichten über Jesus erzählt hatte, während wir draußen Beeren von den Sträuchern ernteten oder frisch geerntete Erbsen aus den Schoten pulten. Sie sollte plötzlich nicht mehr in meinem Leben sein?

Doch Zeit die Trauer zu verarbeiten blieb nicht. Es folgten weitere Schicksalsschläge, die Narben in meiner kindlichen Seele hinterließen. In dieser schwierigen Zeit half mir der fest verankerte Glaube, dass ihre Seelen weiterleben und wir alle stets mit dem ganzen Universum und allen Seelen verbunden sind.

Erinnerungen und Leben

Friedlich eingelassen in das Naturbild gibt es Springbrunnen, Holzpavillons und Sitzbänke für die Besucher. Es wirkt wie ein Ort des Friedens und der Harmonie. Und – es mag vielleicht etwas paradox klingen – ein Ort des Lebens.

Eichhörnchen hüpfen fröhlich durch die Bäume, eine Vielzahl von Vögeln begrüßen zwitschernd den frischen Tag. Menschen, die kommen um das Grab ihrer Lieben zu pflegen. Sie plaudern mit den anderen, die sich hier einfinden. Eine freundliche Geste, ein heiteres Lachen, ein trostspendendes Wort.

Selbst Erinnerung ist etwas Lebendiges.

Ich beobachte einen alten Mann, leicht gebeugt vom Alter, wie er das Grab seiner Frau pflegt, während er mit ihr im Gespräch ist. Hin und wieder huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Ob er sich an gemeinsame Erlebnisse erinnert oder erzählt er ihr von ihren Kindern und Enkelkindern?

Ein anderes Grab ist bunt geschmückt: Solar-Lichterketten, bunt Gebasteltes, Bilder, und Windspiele zieren es. Es ist noch frisch. Jeden Tag sitzen hier drei Kinder und eine Frau, während sie sich leise unterhalten. Gestern haben sie ein Foto-Album durchgeblättert, dabei das ein oder andere Mal heiter aufgelacht. Dann wieder sitzen sie in stiller Trauer beisammen, in Trost spendender Umarmung.

Laut Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften sind selbst Erinnerungen nichts festes und immer gleichbleibendes, sondern sie sind stets aktive gegenwärtige Zusammensetzungen aus einzelnen Eindrücken, die Vergangenes mit Aktuellem vermischen.

Sonnenuntergang als Sinnbild für Abschied nehmen und Loslassen. Im Vertrauen, dass nach der Dunkelheit ein neuer Tag beginnt.
Sonnenuntergang als Sinnbild für Abschied nehmen und Loslassen. Im Vertrauen, dass nach der Dunkelheit ein neuer Tag beginnt.

Wie geht Veränderung? Rituale für den Übergang

Wie gehen wir mit Abschied um? Wie mit dem „endgültigsten“ Abschied von allem – dem Tod? Und ist nicht jeder Abschied wie ein kleiner Tod? Das Ende von etwas?

In welcher Form gedenken wir das Vergangene und wie integrieren wir das Vergangene in unser gegenwärtiges Leben und in die Vision unserer Zukunft?

„Das Ende ist der Anfang nur von der anderen Seite“

Karl Valentin

Rituale sind eine wertvolle Sache, die uns im Prozess des Abschiednehmens unterstützen können. In allen Kulturen gibt es Formen und Rituale um mit Lebensphasen abschließen und in eine neue hinübertreten zu können, oder eben um mit Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen umgehen zu können.

Auch für das Loslassen für Denkmuster, Gewohnheiten, Lebensphasen usw., kann man sich ein Ritual ausdenken, das den Übergang in eine neue Phase, in ein neues Sein markiert. So erzählte zB eine Kollegin von einer Klientin, die nach der Scheidung alle Gedanken und Gefühle, die sie loslassen wollte, auf kleine Zettel geschrieben hat, welche sie anschließend bei einem Fallschirmsprung mit einem Befreiungsschrei über der ganzen Landschaft verteilte! Natürlich kann man sich auch ein weniger dramatisches Ritual überlegen 😉

Abschied nehmen ist ein Prozess. Die Trauer zulassen, den Schmerz herausschreien – um dann akzeptieren zu können was ist. Loslassen in Dankbarkeit, damit Neues Platz findet kann. Das gilt für den Abschied von uns geliebten Menschen genauso wie für Lebensphasen, Denkmuster oder anderes.

Wie geht Veränderung? Abschied von Menschen, von Beziehungen, Abschied von Lebensphasen, von verkrusteten Vorstellungen über das Leben, die Welt und sich selbst, Loslassen von destruktiven Gewohnheiten, Raum schaffen für etwas Neues, in Wertschätzung Abschied nehmen

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Ethnologische Literatur zu Trauerritualen

Über die Trauerriten der letzten Klageweiber Apuliens

https://www.dasmeerundapulien.com/2020/10/02/trauer-vom-lamento-lucano-bis-zum-totentanz-der-streetart/

Trauer und Begräbnis-Rituale bei traditionell lebenden Roma- und Sinti-Gruppen

http://rombase.uni-graz.at/cd/data/ethn/cerem/data/mourning.de.pdf

Diplomarbeit, Totenkult bei den Toraja und Batak in Indonesien

https://core.ac.uk/download/pdf/11598587.pdf

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