Am ersten Tag nach meiner Ankunft in Usbekistan nimmt mich meine Gastgeberin Dilyara auf einen Ausflug in die Stadt mit. Sie stellt mich ihren beiden Freundinnen vor: Gulnara und Natasha – beide wie Dilyara Mitte 20, in Usbekistan geboren und haben BWL/Management Studies studiert.
Ich schlendere im Kielwasser dieser dynamischen Mädels, die mich schäkernd und lachend durch die Hauptstadt leiten. Breite gepflegte Alleen, moderne Kaufhäuser.
Noch ganz geflasht von den vielen neuen Eindrücken bestaune ich eine gigantische Statue von Timurlan, der als Gründer Usbekistans gefeiert wird und beobachte Männer, die in kleinen Gruppen im Park verstreut Schach spielen. Die drei Freundinnen unterhalten sich nun etwas gedämpfter. Am Rande meines Bewusstseins erhasche ich russische Wortfetzen: das usbekische Mädchen, Gulnara, werde bald heiraten. Jedoch bin ich noch zu sehr damit beschäftigt alles Neue aufzunehmen und meinen Jetlag zu verdauen. So kommt es, dass ich sie überschwenglich beglückwünsche – denn ist es nicht fast wie ein Wunder, wenn sich in dieser großen weiten Welt zwei Liebende finden und beschließen miteinander den Bund fürs Leben einzugehen?
Die großen traurigen Augen und den bitteren Zug um die Mundwinkel bemerke ich nicht. „Ich will nicht heiraten“, antwortet sie mir. Berauscht vom Secondhand-Glückstaumel registriere ich nicht die bedrückten Gesichter ihrer Freundinnen. Lachend frage ich warum sie ihn denn nicht heiraten wolle und erwarte eine schalkhafte Antwort. Stattdessen schaut sie noch betrübter: „Ich kenne ihn ja gar nicht! Und nach Dubai will ich auch nicht!“. Ich blinzle verwirrt während ich immer noch versuche die für mich zwei sich entgegengesetzten Aspekte „heiraten“ und „nicht-kennen“ in Einklang zu bringen.
„Bescheuerte Tradition! Sei froh, dass das bei euch Russen nicht üblich ist“, Gulnara spricht damit Natasha an, die „Russin“ unter den dreien.
Jetzt erst beginnt es mir zu dämmern: Arrangierte Heirat!
Natürlich ist mir das ein Begriff und theoretisch weiß ich, dass dies in Usbekistan praktiziert wird. Aber darüber zu lesen – fein von Emotionen gesäubert und fest geschnürt in schöne wissenschaftliche Theoriemodelle gepackt – ist eine Sache. Das nun so nah mitzubekommen – eine ganz andere. Die Angst und den Kummer von Gulnara zu erleben und nicht helfen zu können, schockiert mich.
„Du kannst dich nicht weigern?“ frage ich Gulnara und kann es kaum glauben, wie sich diese junge Frau in ihren engen Jeans, der modischen Frisur und ihrer direkten unverblümten Art ihr Schicksal diktieren lässt.
„Wenn ich ihn nicht nehme, wird sich überhaupt noch ein Mann um mich bemühen? Er ist gebildet und verdient gut… und ich bin ja schon 24!“ Tränen kullern ihr die Wange runter, während Natasha sie tröstend an sich drückt.
Dilyara, Tochter einer Kasan-Tatarin und eines Usbeken, erklärt mir den Hintergrund: Der zukünftige Ehemann Gulnaras war auf derselben Schule wie sie, etwa 3 Jahre älter. Mehr als die Worte „Hallo, wie geht’s“ haben sie jedoch nie gewechselt. Seit einigen Jahren arbeitet er in Dubai und hat beschlossen zu heiraten. Er hat sich an sie erinnert, und bald darauf – durch seine Tanten als Vermittlerinnen – Gulanaras Eltern angesprochen, die entschieden haben, dass er eine gute Partie ist. Die Hochzeitsvorbereitungen laufen nun auf Hochtouren, in nur zwei Monaten wird die Eheschließung stattfinden.
Geknickt, unfähig Worte zu finden, stehen wir auf dem Platz der Nation während über uns Timurlan heroisch in die Weite blickt, die Hand nach der Zukunft ausgestreckt.
Wann Gulnara ihren Bräutigam kennenlernen wird? … Am Tag der Hochzeit.
*
Bauchnabel der Venus
Dilyara rollt den Teig aus. Ihre schwarze Haarmähne hat sie zusammengebunden, ein paar kleine widerspenstige Strähnen fallen ihr ins Gesicht. Über ihren engen Jeans und dem Figurbetonten Pullover trägt sie eine Küchenschürze. Selbst beim Kochen sieht sie umwerfend modisch aus.
Es gibt heute Vareniki – usbekische Tortellini. Fingerfertig windet sie den Teig in kleine Ringe, und mit einer Hingabe, die fast schon an göttlicher Devotion grenzt, zupft sie die Form zurecht.
Ich hänge in meinen Gedanken immer noch dem Gespräch mit Gulnara nach. Wie muss sich das wohl anfühlen sich selbst und sein Leben einem völlig Fremden hingeben zu müssen?
Gedankenverloren sehe ich Dilyara beim Zubereiten zu, während ich immer noch versuche mit meinen zwei linken Händen den Teig für mein erstes Vareniki zu bändigen. „Wie du die Vareniki so gleichförmig hinbekommst!“ schwärme ich. Dilyara prustet wenig damenhaft. „Meine Verwandtschaft ist da komplett anderer Ansicht. Sie bezweifeln stark ob ich mit meiner sogenannten Kochkunst überhaupt einen Ehemann finden werde.“ Sie hat nun ihre Fäuste in die Hüften gestemmt und mit ihrem Gesichtsausdruck, der sehr deutlich macht was sie von dem Ganzen hält, sieht sie eher aus wie ein Bauarbeiter, der auf Krawall gebürstet ist. Ich muss lachen.
„Ja, du kannst lachen! Pff, du glaubst gar nicht wie mir meine Tanten und Cousinen und Nachbarinnen damit auf die Nerven gehen. Jedes Mal wenn ich auf Besuch in unserem Dorf bin – als ob es auf dieser Welt nichts anderes gäbe!“. Schnaubend hämmert sie auf den restlichen Teig ein als verkörpere er die gesamte Kleingeistigkeit dieser Welt.
Dilyara will einen gebildeten Mann, am liebsten einen Kasantataren. Diese seien viel weltoffener als Usbeken, so erklärt sie mir. Die Usbeken – vor allem die „Dorfusbeken“ (ihre Stimme und ihr Gesichtsausdruck triefen geradezu vor Verachtung) hätten so veraltete Ansichten und seien so engstirnig, damit könne sie nicht leben. Ihre Eltern wünschen sich nichts Sehnlicheres als ihre einzige Tochter endlich verheiratet und als Mutter vieler entzückender Kinder zu sehen. … Ein Wunsch, mit dem sie Dilyara ständig in den Ohren liegen. Ständig. Immer und immer wieder. Doch Dilyara hat ihren eigenen Kopf: sie möchte aus Liebe heiraten.
„Weißt du, meine Eltern haben auch aus Liebe geheiratet. Aber es war ein großes Drama – sie, Kasan-Tatarin, er Usbeke, der eigentlich einer anderen versprochen war. Sie hatten nicht nur die Familie, sondern das ganze Dorf gegen sich. Es war eine schwere Zeit für die beiden. … Aber dennoch, meine Mutter will nicht, dass ich das gleiche Schicksal wie andere usbekische Mädchen habe.“
Eine Weile sind wir still, ich bin mir sicher, auch sie denkt gerade an Gulnara.
„Und dein Vater?“, frage ich vorsichtig (vor mir schwebt das Bild eines patriarchalischen Dorfusbeken), „wie sieht er das?“.
„Nun, er besteht natürlich darauf, dass ich einen Usbeken heirate. Möglichst bald.“ Der Zug um ihren Mund wird bitterer und mein Bild von einem patriarchalischen Dorfusbeken verfestigt sich. „Naja, weißt du…“, führt sie weiter aus und ihre Stimme wird weich, „ständig fragen ihn die Verwandten und die anderen aus dem Dorf wann ich denn endlich heirate, während sie mit ihren Schwiegersöhnen prahlen. Manche tuscheln darüber ob mit mir was nicht stimmt, weil ich immer noch keinen Ehemann gefunden habe. Ist für ihn auch nicht leicht. Aber …“, fügt sie verschmitzt hinzu, „er liebt sein Töchterchen, … und außerdem ist Mama die stärkere.“
Dilyara hat einen Freund – einen Usbeken, den sie im Studium kennengelernt hatte. Seit zwei Jahren gehen sie schon zusammen aus. Alle drängen sie ihn zu heiraten. Alle. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Aber „er ist so usbekisch!“, ruft Dilyara aus, als ob dieses Adjektiv allein schon das gesamte Ausmaß des Dramas beschreiben könnte. Sie möchte ihren Mann nicht siezen wie es bei Usbeken üblich sei, und ihn bekochen, ihm Tee einschenken. „Machst du das denn jetzt?“ frage ich sie.
Sie macht eine typische Geste des „Wo denkst du hin!?“, rollt mit den Augen und sagt: „Er hätte das gern so. Das letzte Mal als er hier war, sagte er doch tatsächlich, dass ich das jetzt schon mal üben müsse. Denn wenn ich seine Frau sein werde, erwarte er das von mir. Kannst du dir das vorstellen?!!“ Entrüstet stapft sie hin und her während sie vom letzten Treffen erzählt. „Arbeiten soll ich auch nicht mehr! Nur noch Kinder bekommen und den Haushalt für meine Schwiegermama führen! Eine echte Kelin soll ich werden!“ Dilyara schnaubt vor sich hin. „Erst dachte ich er mache Scherze – aber nein, es ist sein voller Ernst! Seither bin ich mir immer sicherer, dass ich ihn nicht heiraten will!“ Dem energischen Ton folgt ein Blick der Verzweiflung. Dilyara lässt sich auf das Sofa plumpsen. „Aber ich bin doch schon 26… Was ist, wenn ich nie einen Mann finde…?“
„Mmpf.“ Sage ich nur, während ich an meine bisher doch stattliche Anzahl von fehlgeschlagenen Versuchen Mr. Right zu finden denke – und die penetranten Nachfragen meiner Verwandtschaft, „ich bin 28…“ seufze ich und lasse mich resigniert neben sie plumpsen.