Ich möchte euch ein Buch vorstellen, das mich wirklich begeistert hat! Ein Buch über eine Idee, die unsere Welt revolutionieren könnte. Die Gestaltung unseres Lebens und wie wir mit anderen umgehen, hängt von unserem Weltbild ab aber auch welche Grundeinstellung wir anderen Menschen gegenüber haben. Daraus erwächst unser näheres soziales Umfeld, und im Größeren erschaffen wir auf dieser Grundlage unsere Gesellschaft.
Grund genug einen prüfenden Blick darauf zu werfen!
Unser gegenwärtiges Gesellschafts- und Wirtschaftssystem basiert auf dem Menschenbild des egoistischen homo oeconomicus. Doch ist dies tatsächlich das eigentliche Naturell des Menschen?
Der junge Akademiker-Rebell mischte 2019 das Weltwirtschaftsforum mit seiner Rede zu seinem Buch „Utopien für Realisten“ auf. In seinem neuesten Buch beschäftigt er sich mit der Frage nach dem ursprünglichen Wesen des Menschen. Wie wir mit falsch angenommenen „Wahrheiten“ eine selbsterfüllende Prophezeiung erschaffen, und was wir aus der Vergangenheit lernen können.
Rutger Bregman. Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Hamburg: Rowohlt Verlag. Deutsche Erstausgabe. 2020.
Table of Contents
Der aggressive egoistische Homo oeconomicus
Letztens mal Ferngesehen? Filmemacher und Serienproduzenten überbieten sich mit blutrünstigen Gemetzeln, Intrigen und Verrat selbst unter Freunden und Verwandten – das Motto: jeder ist sich selbst der Nächste und man kann niemanden vertrauen. Auch die „Nachrichten“, die uns auf dem Laufenden halten sollen was in der Welt so passiert, präsentieren wie eh und je vorrangig das Schlechteste des menschlichen Verhaltens. Das Menschenbild, das unserem neo-kapitalistischen Wirtschaftssystem zu Grunde liegt (homo oeconomicus: der rationale, nur den eigenen Bedürfnissen verpflichtete Mensch, der einzig und allein nach Gewinnmaximierung strebt) wird uns zum täglichen Konsum dargeboten.
Sitzen wir alle der Fassadentheorie auf?
“Fassadentheorie”: So bezeichnet der Biologe Frans de Waal den hartnäckigen Mythos, dass wir Menschen von Natur aus egoistisch und aggressiv seien, daher kontrolliert und (bürokratisch) geregelt werden müssten, damit das (angeblich) wacklige Gerüst – die Fassade – unserer Zivilisation nicht in Chaos und Anarchie abgleitet. (Vgl. Bregman, Rutger, 2020: S.21)
Die Debatte über das “wahre Wesen” der menschlichen Natur und die damit verknüpfte Frage nach der Notwendigkeit einer „staatlichen Gewalt“ kann man zurückverfolgen auf die Staatsphilosophen Jean-Jacques Rousseau und Thomas Hobbes. Während Rousseau – u.a. inspiriert durch die Reiseberichte über „herrschaftslose Völker“ – den freien kreativen Menschen sah, war Hobbes überzeugt dass Menschen eine feste Staatshand brauchen, die sie führt.
Diese Debatte begleitete über die Jahrhunderte auch die Ethnologie. Durch intensive Forschung, selbstreflexive Debatten kamen Ethnolog-inn-en zum Schluss, dass der Mensch vorrangig ein soziales (homo sociocus) und kreatives / spielendes (homo ludens) Wesen ist.
So viel aus Sicht der Ethnologie – nun weiter zu Rutger Bregmans Buch!
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Im Grunde gut: Eine radikale Idee
„Dies ist ein Buch über eine radikale Idee. Es ist eine Idee, die Machthabern seit Jahrhunderten Angst einjagt […]. Über die die Medien eher selten berichten, deren Geschichte durch eine unaufhörliche Verneinung geprägt zu sein scheint. Gleichzeitig ist es eine Idee, die von nahezu allen Wissenschaftsbereichen untermauert, die von der Evolution erhärtet und im Alltag bestätigt wird.[…] Wenn wir den Mut hätten, sie ernst zu nehmen, würde sich herausstellen: diese Idee könnte eine Revolution entfesseln. Die Gesellschaft auf den Kopf stellen.[…]
Worin besteht diese Idee?
Dass die meisten Menschen im Grunde gut sind.“
Bregman, 2020: S.19
Was ist das für eine süße, naive Idee magst du nun vielleicht denken. Es gibt doch eine Fülle von Beweisen von aggressiven, hasserfüllten, oder einfach nur egoistischen Menschen!
… doch was ist, wenn wir den Fokus falsch gerichtet haben? Schlimmer noch – was ist wenn wir diese Realität selbst hervorrufen?
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Unsere Zukunft – eine selbsterfüllende Prophezeiung?
Unser persönliches Welt- und Menschenbild speist sich bekanntlich nicht nur aus unseren vergangenen Lebenserfahrungen, sondern auch unserer Erziehung – meist übernehmen wir unbewusst die Sichtweise unserer engsten Familienmitglieder. Darüber hinaus prägen uns auch die Erfahrung(en) anderer, welche wir durch freundschaftlichen Austausch, Tratsch, Medienberichte, schriftliche oder filmische Erzählungen in unser Wahrnehmungsportfolio aufnehmen. Je öfter wir mit einer bestimmten Sichtweise konfrontiert werden, um so stärker beeinflusst sie unsere Wahrnehmung. …und unsere Wahrnehmung formt unsere Realität.
Dies ist auch die Grundlage von systemischer Beratung und Therapie. In meinen Coachings sehe ich es an meinen Klienten wie ein Perspektivwechsel und damit verbundene Bedeutungsgebung die Handlungsoptionen erweitert. Plötzlich werden Chancen möglich, die vorher undenkbar waren oder zuvor festgefahrene Konflikte lösen sich auf. Daher sind Methoden des Bewusst-werdens und des Reframing von besonderer Bedeutung im Veränderungsprozess.
Im Grunde begibt man sich bei der Lektüre von Bregmans Buch in einen großen „Reframing-Prozess“ bezüglich der menschlichen Natur und unserer gesellschaftlichen Entwicklung.
Dies ist auch tatsächlich sein Ansinnen. So geht er auf Studien der Placebo- und Nocebo-Forschung ein und erläutert deren Ergebnisse. Bregmans Fazit:
„Die Pointe bezüglich meiner Augsgangsthese lautet nun: Unser negatives Menschenbild ist ebenfalls ein Nocebo. Wenn wir glauben, dass die meisten Menschen im Grunde nicht gut sind, werden wir uns gegenseitig dementsprechend auch behandeln. Dann fördern wir das Schlechteste in uns zutage. Letztlich gibt es nur wenige Vorstellungen, die die Welt so sehr beeinflussen wie unser Menschenbild. Was wir voneinander annehmen, ist das, was wir hervorrufen.“
Bregman, 2020: S.27
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Bregman auf Spurensuche
Da vor allem wissenschaftliche Thesen und Studien großen Einfluss auf unser Weltbild ausüben, unterzieht Rutger die Werke mehrerer bedeutender Historiker, Psychologen und Anthropologen, die den Mythos vom kriegerischen und/oder im Grunde egoistischen Menschen mit vermeintlichen Belegen untermauert haben, einer Analyse. Er wälzte jegliche wissenschaftliche Literatur, die er zum Thema finden konnte – und fokussierte sich anschließend auf solche Studien, die für kein breites Massenpublikum geschrieben worden waren. Und ja, er ist nicht der einzige, der sich diese populärwissenschaftlichen Bestseller über den kriegerischen / egoistischen Menschen zur Brust nahm um sie auf “Herz und Nieren” – Quellen, Datenlage, Argumentationsstränge – zu prüfen. (Bregmann S.108 ff.).
Fazit: Die Gesamtheit der Wissenschaftler zeichneten keinesfalls ein solch einseitiges Bild der menschlichen Natur – es war das, was Medien / einzelne Journalisten herausgriffen, aus dem Kontext rissen. Doch mehr noch: populärwissenschaftliche Bestseller, welche in führenden Fachzeitschriften veröffentlicht und denen in öffentlichen Medien Raum zur Wirkung gegeben wurde, wiesen Rechen- und Interpretationsfehler, sowie teils zweifelhafte Quellen auf, enthielten ungelöste Widersprüche, aus dem Kontext gerissene Informationen, falsch ausgewertete Daten. – ihre Thesen fallen also in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
Er schlussfolgert mit der Frage:
„Was, wenn unsere Sucht nach Spannung und Sensation uns einen Streich spielt? Was wenn die Wissenschaft für etwas ganz anderes als die meistverkauften und meistgelesenen Studien steht?“
(Bregmann, 2020: 109)
Auch Medienberichte, die weltweit für Aufsehen sorgten und immer wieder von Politikern als Beweis für die Schlechtigkeit des Menschen herangezogen werden, nimmt er unter die Lupe.
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Hurrikan Katarina, New Orleans: Beweis für den brutalen Kern des Menschen?
2005: Mit Hurrikan Katarina brach über die USA nicht nur die größte Naturkatastrophe in ihrer Geschichte herein, sondern brachte wie es schien auch den schlechten Kern des Menschen ans Licht. Medienberichte über Plünderungen, Schießereien, Vergewaltigungen und Morde füllten die Zeitungen und Nachrichtensender.
Die Fassadentheorie scheint sich bestätigt zu haben.
Doch…
Monate nach der Katastrophe haben sich Wissenschaftler Mühe gemacht alles aufzuarbeiten, zu recherchieren. Es stellte sich heraus, dass es sich bei den angeblichen Schießereien um das Ventilgeklapper eines Gastanks gehandelt habe, bei den Toten um natürliche Tode sowie 2 Selbstmorde. Was mit den Plünderungen? Diese geschahen in großen Zusammenschlüssen, teilweise sogar in Kooperation mit der Polizei um das Überleben zu sichern. Ansonsten konnte man das beobachten was auch bei anderen Katastrophen offenbar wurde: die Menschen kümmerten sich um einander.
Doch die Medienberichte über die anarchistischen, gewalttätigen Zustände hatten eine unschöne Konsequenz, die tatsächlich Leben kostete: Hilfeleistungen kamen kaum in Gang, weil sich die Rettungskräfte nicht ohne Schutz in die Stadt wagen wollten. 72 000 Soldaten wurden beordert. Der Gouverneur sprach von „Gesindel“, das in Schach gehalten werden müsse und dass „die Truppen wissen wie man schießt und tötet“. Fazit? Geblendet von Medienhysterie und ihren eigenen Vorurteilen erschossen Soldaten zwei unschuldige (und unbewaffnete) Teenager. (Vgl. Bregman, Rutger, 2020: S.22 ff.)
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Sind wir statt Homo Sapiens eher „Homo Puppy“?
Hier erläutert Bregman interessante Forschungen, die unter anderem die These bestätigen, dass im Evolutionsprozess nicht „der Stärkere“ überlebt sondern der kooperationsfähigste und freundlichste.
Von Nomaden über Bauern zu Managern & Politikern
Wenn wir tatsächlich „im Grunde gut“ sind, warum gibt es dann so viele Kriege? Warum leben wir in einer Gesellschaft, die auf einem Wirtschaftssystem mit Ellbogen-Mentalität beruht?
Zunächst geht Bregman auf Forschungsergebnissen von Ethnologen ein, die in (halbnomadischen) Jäger- und Sammler-Gesellschaften geforscht haben. Deren Sozialorganisation sind auf den Prinzipien des Teilens, Konsens und gegenseitigen Vertrauens aufgebaut. Führungspersonen treten gleichermaßen durch ihre Fähigkeiten wie auch durch ihre moralischen Tugenden hervor, wobei es sich um KEIN permanentes Amt handelt. Den für die Gemeinschaft schädlichen Eigenschaften wie Stolz, Überheblichkeit und Ego-Trips wird durch beschämenden Witz und das Lehren von Bescheidenheit und Fürsorge vorgebeugt.
In seiner Argumentation folgt er der (romantischen ?!) Sicht von u.a. Rousseau: Entwicklung der Menschen von Nomadentum zu Sesshaftigkeit führte zu eingeengten mentalen Horizont, zu Besitzanspruch und Angst vor Verlust des Besitzes. Dadurch erwuchsen hierarchische Gesellschaftsstrukturen, Verteidigung von Machtansprüchen und schließlich Kriege. Der Höhepunkt dieser unheilvollen Entwicklung? Der vollkommen durchbürokratisierte Staat in Kombination mit einem kapitalistischen Wirtschaftssystem.
Des Weiteren beschäftigt er sich mit der Frage ob und wie Macht korrumpiert und welche Rolle unsere Fähigkeit zu erröten, also Scham zu empfinden, dabei spielt. An dieser Stelle stützt er sich auf Studien im Bereich der Psychologie und der Neurowissenschaften.
Das Ergebnis: Statt Ego-Trips und Machtstreben zu unterbinden, haben wir uns eine Gesellschaftsordnung geschaffen, in der gerade die Personen mit „Ellbogen-Mentalität“ und verringerter Empathiefähigkeit an entscheidende Machtpositionen gelangen.
Und da wundern wir uns noch?
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Ja, es geht auch anders! Eine bessere Welt ist möglich
Anschaulich erzählt Bregman von inspirierenden Personen, Projekten und Bewegungen, die auf einem anderen Menschenbild basieren. Und ja, erfolgreich damit sind. Da geht es u.a. um Unternehmenskonzepte und Freie Schulen, die auf starre Regeln, Controlling und enge Führung verzichten, sondern auf Vertrauen, Freiheit und innere Motivation des Menschen setzen. Besonders beeindruckt hat mich das Konzept der norwegischen Gefängnisse.
Verblüffend, inspirierend und Mut machend! Lest selbst!
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FAZIT: Ein Buch, das dich verändern wird!
Wie soll ich nur ein Buch beschreiben, das auf 480 Seiten prallgefülltes Wissen, überraschende Forschungserkenntnisse und inspirierende Praxisbeispiele bietet?
Ich habe dieses Buch regelrecht verschlungen – es ist pointiert geschrieben, verfolgt jedoch gleichzeitig einen wissenschaftlichen Ansatz. Zunächst beschreibt er ein Geschehnis oder eine wissenschaftliche These wie vorherrschend erzählt wird, dann nimmt er den Leser mit auf seine Spurensuche. Quellenlagen, Rahmenbedingungen von Studien, Studienprotokolle, erschienene Interviews und Medienberichte nimmt er unter die Lupe. Manche der Erkenntnisse sind geradezu schockierend: weltbekannte Studien, deren Ergebnisse wegen des Ego des leitenden Wissenschaftlers manipuliert wurden oder Medienberichte welche die Wahrheit verzerrten um Sensationsgier zu befriedigen oder Klickzahlen zu erhöhen.
Noch viel spannender aber sind seine Berichte und Interviews über positive Praxisbeispiele und historische Ereignisse, die die eigenen Glaubenssätze auf den Kopf stellen.
Es liest sich wie ein spannender Krimi und rüttelt am vorherrschenden Weltbild – Definitiv Lesetipp!
Unter diesem Link des Rowohltverlags findest du auch eine Leseprobe.
Interview-Empfehlungen
Interview von Deutschlandfunkkultur mit Rutger Bregman zum vorliegenden Buch – auch als Podcast zu hören.
Hier ein sehr zu empfehlendes Gespräch über das Wesen des Menschen, Epidemien und dem Aspekt der Macht zwischen Yuval Noah Harari & Rutger Bregman, moderiert von Zanny Minton Beddoes, die Chefredakteurin von The Economist: Auf YouTube zu sehen.