Wie atemberaubend! Gerade zurückgekommen vom Tempel der Gemeinschaft Damanhur. Tief in den Fels gehauen, 3 Etagen – per Hand. Und so kunstvoll gestaltet, dass es einem die Sprache verschlägt. Nein, ich bin nicht irgendwo in Indien oder Ägypten, sondern in Norditalien.
Doch halt, erst einmal auf Anfang…
Wir befinden uns gerade auf unserer Europa-Tour mit unserem selbst ausgebauten Campervan. Damanhur steht schon lange auf meiner Liste von Gemeinschaften, die ich besuchen möchte. Vor ein paar Jahren schon habe ich von dieser Gemeinschaft gehört, die eine eigene sozio-politische, basisdemokratische Struktur und eigene Währung haben soll. Sie hat sich vor 48 Jahren unter der Federführung des Visionärs Falco Aurodi gegründet und zählt mit 600 Personen zu den größten Gemeinschaftsföderationen weltweit. 2005 wurden sie als Beispiel für nachhaltiges Zusammenleben von der UNESCO ausgezeichnet.
Davon abgesehen weiß ich nicht viel von Damanhur. Zwar habe ich mich auf deren Webseite umgesehen, doch besonders vielsagend fand ich es nicht, sogar eher etwas „ominös“. Natürlich haben sich in meiner Phantasie schon Bilder vorgeformt. Aber so wirklich greifen lässt sich Damanhur für mich nicht.
Was uns wohl dort erwarten mag?
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Ankunft in Damanhur
Weil wir uns zunächst einen kleinen, quasi homöopathischen, Eindruck von Damanhur verschaffen wollen, haben wir im Voraus eine Halbtages-Tour gebucht. Am Abend zuvor reisen wir an. Der erste Eindruck: ernüchternd. Die Ortschaft Vidracco, wo Damanhur angesiedelt ist, wirkt wie die anderen Orte, durch die wir durchgefahren sind, etwas ….nun ja wie soll ich es ausdrücken… lieblos? Damanhur liegt am Ende des Ortes, 3 große Fabrikgebäude thronen wie Betonklötze auf einer Anhöhe, sie sehen verfallen und lieblos aus. Es gibt kein Hinweisschild. Aber die Adresse scheint zu stimmen. Ratlos sehen wir uns um. Das kann doch nicht sein?… ? Behutsam tasten wir uns vorwärts. Von dieser Seite sieht es aus wie eine Baustelle, fast wollten wir umdrehen, dann lugen wir um die Ecke, entdecken einen großen Parkplatz und etwas, das vielleicht ein Außencafé im Shabby-Chic-Style sein könnte, vielleicht auch ein Bauschuttplatz. So ganz sicher sind wir uns da nicht. Ein paar Schritte weiter sehen wir es dann:
Da steht über dem Eingang tatsächlich „Damanhur Crea“. Sprachlos starren wir diesen Klotz der puren Hässlichkeit an und wissen nicht recht was wir denken sollen. Viele Minuten vergehen ehe wir bemerken, dass darin noch Leben ist. Die elektronische Tür gleitet auf und eine ältere Dame in Yoga-Pluderhosen und Leinenshirt kommt, uns lächelnd mit einem französischen „Bonjour“ zunickend, heraus. Langsam bewegen wir uns aus unserer Schockstarre.
Wir wagen uns hinein und entdecken eine Perle
Der zweite Eindruck: innen finden sich ein gemütliches Café, ein Bioladen, das Welcome-Center, ein Souvenirshop und diverse Abteilungen („Architektur“, „Laboratorium“, „Health-Center“, Juwelier-Atelier u.a.). Hier begegnet uns auch ein bekannter Name aus Ivrea wieder: Adriano Olivetti. Dieser Gebäudekomplex hat zu den Olivetti-Werken gehört und lag 20 Jahre brach bevor die Gemeinschaft es restauriert hat. Einander zugewandte Menschen unterschiedlicher Nationalitäten (die entweder gebrochen Englisch oder gebrochen Italienisch miteinander sprechen) sitzen an den Bistro-Tischen, es herrschte eine angenehme, friedvolle, und positiv energie-geladene Atmosphäre. Die Wände sind farblich ästhetisch gestaltet, überall kunstvolle Elemente. Ich muss an die Geschichte mit der Auster denken – von außen unscheinbar, innen eine wunderschöne Perle.
Eintauchen in die ästhetische Kultur von Damanhur
Wir sind eine kleine Gruppe von 9 Personen – mit einem Österreicher, zwei Schweizer, einem Paar aus Litauen, und einem Tochter-Mutter-Gespann aus Israel. Lizard Pepper, so stellt sie sich uns auf Englisch vor, wird uns herumführen. Warme Ausstrahlung, Lachfältchen übers ganze Gesicht, leuchtende Augen. Eigentlich ist sie Deutsche, lebt aber schon seit über 30 Jahren in Damanhur. Ob sie im Tempel mitgegraben habe? Sie strahlt: „Aber natürlich“, es sei ein einzigartige Erlebnis gewesen.
Das Zentrum „Damanhur Crea“ in den ehemaligen Olivetti-Hallen liegt am Ende des Ortes Vidracco, das eigentliche Gemeinschaftsareal – die zuerst gegründete Community „Damjl“ mit dem offenen Tempel noch etwa 5 Autominuten weiter entfernt in Baldissero Canavese.
Hier ist wirklich besondere Energie zu spüren. Kennst du das, wenn du irgendwo hinkommst wo zuvor ein Streit zugange gewesen war? Man spürt regelrecht die “dicke Luft”, die Spannungen, die Wut. …. Dasselbe gilt für positive Atmosphären. Man fühlt sich sofort wohl, und frei, manchmal sogar regelrecht “positiv aufgeladen”. Das fällt mir meist bei sehr alten Kirchen auf, aber auch bei einzelnen Menschen oder Familien, die eine harmonische Beziehung zueinander leben. So eine positive Atmosphäre spüren wir auch hier.
Tanz von Kunst und Spiritualität – Jeder ist ein Künstler
Der offene Tempel ist das Symbol dafür, dass in Damanhur das “Explorieren” einen großen Stellenwert einnimmt. Das Spielen mit der Kunst, das Experimentieren mit dem Leben. Um mehr über das Menschsein und sich selbst herauszufinden. Herauszufinden wie Gemeinschaft am besten funktionieren kann. Das spirituelle Wesen des Menschen entdecken. Es gebe so viele verschiedene Facetten, das empfinde jeder Mensch anders, auch wie er dem Ausdruck verleihe. Sie haben daher in Damanhur keine eigene Religion, sondern eher eine Philosophie, betont Lizard Pepper.
So ist auch dieser Platz des offenen Tempels entstanden: seine Persönlichkeit durch künstlerisches Experimentieren ausdrücken, verschiedene Techniken auszuprobieren und dabei auch sich selbst neu zu entdecken. Es war nur als kurzes Projekt gedacht gewesen, habe aber alle so sehr begeistert, dass der Kunstwettbewerb noch 1,5 Jahre andauerte.
Der Offene Tempel spielt im Gemeinschaftsleben eine zentrale Rolle: hier finden jährliche Gemeinschaftsrituale statt, Theaterveranstaltungen, Konzerte. Oder einfach individuelles Meditieren, Tanzen, Singen, dankbares Innehalten in Stille oder was auch immer einen einzelnen bewegt.
Der Gründer und Mentor der Gemeinschaft, Falco Aurodi ist vor 4 Jahren verstorben. Sie spricht voll ehrlicher Wärme von ihm. Diese Statue stelle ihn so dar wie er im Leben gewesen sei: Immer fröhlich und lachend. Er habe immer zuerst an andere, erst danach an sich selbst gedacht. Er war wohl der mitfühlendste und selbstloseste Mensch, den sie je kennengelernt habe. Das Leben mit Humor sehen und allen Lebewesen mit Liebe zu begegnen, das sei sein Credo gewesen.
Der Tempel von Damanhur – das Highlight
Nun geht’s auf zum Tempel, mit dem Kleinbus fahren wir einige Minuten kurvenreiche Straßen hoch. Auch hier wieder gelangen wir zu einem Wohngebäude, das äußerst kunstvoll mit Malerei gestaltet ist. Ab hier dürfen wir auch keine Fotos mehr machen.
An einer unauffälligen Stelle geht es mehrere Stufen hinunter. Wir tasten uns durch einen dunklen, in rauen Fels gehauenen Gang weiter. Treten durch eine dicke Metalltür durch – und was wir dann sehen, verschlägt uns die Sprache. Ehrfürchtig bestaunen wir die farbenprächtigen Gemälde, die Mosaike, die Glassteine, die Säulen, die Gewölbe.
Ich kann es nicht beschreiben, mein analytisches Hirn setzt aus, ich bin ganz Herz. Tränen der Rührung steigen in mir auf, tief aus meinem Bauch heraus, so etwas Wundervolles hatte ich nicht erwartet. Etwas beschämt linse ich zu den anderen Teilnehmern hinüber. Auch in ihren Gesichtern entdecke ich ehrfürchtiges Staunen und tiefe Rührung.
Tempel der Menschheit – hier sollen alle Glaubensrichtungen ihren Platz finden, ja miteinander versöhnt werden. Jede Gewölbehalle ist eine Entdeckung für sich, und überall finden sich unerwartete Elemente – baulich, akustisch, visuell oder philosophisch. Der Tempelbau wartet mit einigen bemerkenswerten Überraschungen auf.
Lizard Pepper erzählte sie waren ca. 100 Personen – alles Laien, die zuvor weder „Bau“, noch „Statik“ noch „Architektur“ studiert hatten. Und ohne große finanzielle Mittel.
Tief in den Fels gehauen, per Hand, 17 Jahre heimlich, ohne offizielle Baugenehmigung wurde hier gegraben. Diese erfolgte erst später. Als die Beamten von der BauBehörde und Polizisten kamen um sich den Tempel anzusehen, waren diese so bewegt, dass sie die Genehmigung im Nachhinein erteilten.
Der Tempel sei noch nicht fertig, es werde immer noch gemalt, gebildhauert, nur gegraben werde momentan nicht mehr, ein weiterer Tempel sei jedoch in Planung verriet sie uns gegen Ende.
Gemeinschaftsleben in Damanhur, Ökologie & Wirtschaft
Damanhur ist keine in sich geschlossene, räumlich zusammenhängende Gemeinschaft, wie ich das zunächst gedacht hatte. Sie setzt sich aus 4 Communities zusammen, die wiederum aus mehreren „Nucleos“ – Wohngemeinschaften (von bis zu 20 Personen) bestehen, die auf 30 Häuser verteilt sind. Diese sind über das ganze Tal verstreut. Jede Wohngemeinschaft habe sich einem bestimmten Projektziel bzw. einem bestimmten Thema gewidmet, an dem sie forsche. Das kann ökologische Nachhaltigkeit sein, „Offgrid-Leben“, Persönlichkeitsentwicklung und Gruppendynamik, Handwerkskunst, Heilung oder Bildung und Erziehung.
Jeder Nucleo bestimme für ein Jahr eine(n) Vertreter/in, die für den Nucleo im großen Rat spreche. Dann gebe es noch einen Präsidenten / Präsidentin, die Damanhur gegenüber Behörden, Ministerien oder anderen Gemeinschaften repräsentiere.
In der Regel finde einmal in der Woche in jedem Nucleo sowie regelmäßig in jeder Community eine Versammlung statt wo Anliegen besprochen werden können und Beschlüsse gefasst.
Auf den Häusern befinden sich Solarpanels, Waschbecken werden mit mechanischen Wasserpumpen bedient um Wasserverbrauch zu reduzieren. Landwirtschaftliche Flächen liegen etwas weiter außerhalb. Sie versuchen möglichst bald autark zu werden.
Gespräch mit “Maria” – ihr Weg nach Damanhur und wie es sich hier lebt
Am zweiten Tag lerne ich noch Maria kennen, sie arbeitet in der Damanhur Crea. Eigentlich heißt sie anders. Auch sie erhielt durch den Initiationsritus einen Tiernamen, tatsächlich mit M… beginnend. Ein kleines Tier auf den philippinischen Inseln, erzählt sie mir strahlend, es sei klein, jedoch sehr wichtig für das Ökosystem dort. Überhaupt strahlt sie die ganze Zeit, aber nicht aufgesetzt sondern so richtig von innen heraus. Sie sei jetzt seit 11 Jahren in Damanhur, eigentlich stamme sie aus Kroatien. Am Meer habe sie gelebt, das sei das einzige, das sie hier vermisse.
Wie sie ausgerechnet nach Damanhur gekommen sei? Sie schüttelt ungläubig den Kopf, das sei schon seltsam gewesen. Es war einer der letzten Prüfungstage im Studium gewesen, da sei eine Kommilitonin neben ihr gesessen, die sie davor noch nie gesehen hatte. Da der Abschluss bevorstand, unterhielten sich beide über ihre Zukunftspläne und eben diese Kommilitonin erzählte sie gehe nach Damanhur. Maria ließ sich von der Begeisterung anstecken und bewarb sich für ein Workaway. Seither lebt sie hier, zusammen mit ihrem Mann, den sie hier kennengelernt hat, und ihren zwei Kindern.
Jede Wohngemeinschaft versuche für sich eine Form des gemeinsamen Wirtschaftens zu finden, die für sie passe, erzählt mir Maria. Während es eine gibt, in der alles geteilt werde, hat sich ihre Wohngemeinschaft dafür entschieden, dass jeder Bewohner 10% seines Gehaltes in die gemeinsame Kasse gibt, wovon Lebensmittel, Haushaltsgegenstände, Werkzeug etc. und andere gemeinsame Dinge gekauft werden.
Fazit
Als wir die Halbtages-Tour gebucht haben dachten wir, wow, 77€ pro Person. Was für ein Batzen Geld. Aber, nun hinterher, kann ich nur sagen, es hat sich gelohnt! Lizard Pepper hat sich viel Zeit genommen unsere Fragen zur Entstehung von Damanhur, seiner Philosophie und seinem Gemeinschaftsleben zu beantworten. Viel mehr Information in kurzer Zeit, als ich verarbeiten konnte.
Besonders angetan war ich von der ” Halle des Labyrinths” im Tempel, wo die verschiedenen Religionen der Menschheit in prachtvollen Farben und diversen Kunsttechniken dargestellt werden. Sowie der Abschnitt in der zweiten Tempelhalle, wo die Bewohner von Damanhur, inklusive Falco in einer Karikatur gezeichnet wurden. >Die Botschaft: sich selbst nicht so ernst nehmen und dem Leben mit Phantasie und Humor begegnen.
Der Tempel ist ein Beispiel dafür, was eine kleine Anzahl von Menschen ohne großen finanziellen Background – und ohne groß angelegten Projektplan und strategischer Budgeteinteilung vollbringen kann.
So richtig greifen lässt sich das Leben und die Philosophie von Damanhur für mich immer noch nicht – aber das kann man nach eineinhalb Tagen auch nicht erwarten 😉
Kommt und entdeckt selbst – es lohnt sich!
Entdecke Damanhur:
Auf der Webseite des Welcome-Centers von Damanhur findet ihr Tages-Tour-Angebote in verschiedenen Sprachen. Auch ist es möglich für eine längere Zeit am Gemeinschaftsleben teilzunehmen.